Interview mit Wladimir Gall
3. März 2013
Hallo Wladimir, wir hatten ja bereits mehrfach die Möglichkeit, dich persönlich kennen zu lernen. Allerdings wollen wir den Leserinnen und Leser unserer Zeitung ein Stück weit an deinem Leben, deinen Erfahrungen und Erlebnissen Teil haben lassen. Vielleicht kannst du uns zuerst kurz schildern, wann und wo du geboren wurdest und welchen Bildungsweg du bis zu deinem Eintritt in die Rote Armee genommen hattest?
GALL: Ich wurde am 20. Januar 1919 in der Stadt Charkow (heute ukrainisch Charkiw – d. Red.) geboren. 1936 machte ich das Abitur und nahm ein Studium an der Moskauer Hochschule für Geschichte, Philosophie und Literatur (Fachrichtung Weltliteratur und Deutsch) auf. Mein Lieblingslehrer war Lew Kopelew.
APB: Ab wann hast du die aufkommende Gefahr des deutschen Faschismus wahrgenommen und ab wann war dir klar, dass der deutsche Faschismus auch eine direkte Gefahr für die Sowjetunion war?
GALL: Schon während des Studiums erkannte ich die akute Gefahr des deutschen Faschismus und es wurde mir klar, dass es nicht nur, aber vor allem unsere Sowjetunion bedroht.
APB: Wann und unter welchen Umständen bist du später zur Roten Armee gekommen?
GALL: Am 22. Juni 1941, dem Tag des Überfalls Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion, absolvierte ich die Hochschule und legte mein letztes Staatsexamen ab. Ich meldete mich sofort freiwillig zur Roten Armee; später hatte ich den Dienstgrad eines Hauptmanns.
APB: Wie genau sah dein Leben an der Front aus? Was waren deine hauptsächlichen Aufgaben in der Roten Armee, als ihr auf dem Weg nach Berlin ward?
GALL: Ich gehörte zu einem Sondertrupp der Armee. Unser Kampfauftrag bestand darin, die deutschen Soldaten über den Krieg, den Faschismus und die sowjetische Kriegsgefangenschaft aufzuklären und sie zur Aufgabe zu bringen. Jeden Abend fuhren wir mit einem Lautsprecherwagen an die sog. HKL (Hauptkampflinie) und wandten uns über das Mikrofon direkt an die Wehrmachtsangehörigen. Sehr oft wurden wir dabei von ihnen heftig beschossen.
APB: Dein Einsatz als sowjetischer Parlamentär in der Festung Berlin-Spandau hat vielen Deutschen, vor allem Frauen und Kindern das Leben gerettet. Erzähl uns doch bitte noch etwas über diesen im wahrsten Sinne des Wortes „filmreifen“ Einsatz.
GALL: Der Höhepunkt meiner Tätigkeit im Sondertrupp war der Parlamentärgang in die Zitadelle Spandau am 1. Mai 1945. Ausführlich habe ich alles in meinem Buch „Moskau – Spandau – Halle. Etappen eines Lebensweges“ beschrieben. Dieser Einsatz war nicht nur „filmreif“, sondern in erster Linie lebensgefährlich.
Das war die dramatischste Episode meines Lebens.
Zu Zweit, also Major Grischin und ich, stiegen wir über eine Strickleiter – einem Weidenstock mit einem Stück weißen Stoff in der Hand – als Parlamentäre in die Spandauer Zitadelle. SS-Fanatiker, die sich in der Festung befanden, versuchten immer wieder unsere Verhandlungen zur Vermeidung weiteren sinnlosen Blutvergießens zu sabotieren und wollten unsere Erschießung. Zum Glück war das nicht geschehen. Damit waren hunderte Zivilisten gerettet. Es freut mich, dass viele Deutsche diese humane Tat von uns und der Roten Armee nicht vergessen haben.
APB: Später hat dich der wunderbare Film „Ich war neunzehn“ von Konrad Wolf einem breiten deutschen Publikum bekannt gemacht. Was verband dich mit Konrad Wolf und seiner Familie, vor allem mit seinem Bruder Markus Wolf? Welche Bedeutung hatten sie für dich?
GALL: Ich lernte Konrad Wolf an der Front, in einem Sondertrupp, kennen, schätzen und lieben. Er wurde mein bester Freund und blieb es bis zu seinem viel zu frühen Tod 1982. Konni machte mich mit seinem Vater, dem bedeutenden antifaschistischen Schriftsteller Friedrich Wolf und seinem älteren Bruder, dem späteren legendären Chef der DDR-Aufklärung Markus (Mischa) Wolf bekannt. Ich bewunderte alle drei als kluge, aufrechte, rechtschaffende Menschen, mutige Kämpfer gegen den deutschen Faschismus, als Kampfgefährten im Kriege und in der Nachkriegszeit. Sie waren für mich die besten Vertreter des deutschen Volkes.1
APB: Nach der Zerschlagung des Faschismus durch die Rote Armee hast du neue Aufgaben bekommen? Welche Funktion hattest du nach dem Sieg über den Faschismus, also wie ging es für dich nach dem 8. Mai 1945 weiter?
GALL: Nach dem Sieg über den Faschismus war ich in den ersten und schwersten Nachkriegsjahren Leiter der Kulturabteilung der SMAD (Sowjetische Militäradministration) in Sachsen-Anhalt. Übrigens war ich der erste Sowjetbürger, der nach Halle kam. Kulturoffizier hatten nicht die Aufgabe, der deutschen Bevölkerung unsere sowjetische Kultur aufzuzwingen, sondern vielmehr, ihnen zu helfen, die faschistischen Kulturinhalte zu entlarven, zu beseitigen und eine neue demokratische Kultur zu entwickeln. Als ich viele Jahre später Halle – noch zu DDR-Zeiten – besuchte, merkte ich, dass uns dies durchaus auch recht gut gelungen schien.
APB: Was hast du nach deiner Rückkehr in die Sowjetunion gemacht?
GALL: Nach der Rückkehr war ich bis Ende 1949 Lehrer in der Antifa-Zentralschule in Krasnogorsk bei Moskau. Wir erzogen unsere Schüler/innen im Geiste der Demokratie und der Völkerfreundschaft. Anfang 1950 ließ ich mich ausmustern und war danach bis zur Rente in der Moskauer Hochschule für Fremdsprachen als Dozent tätig. Ich unterrichtete nicht nur sowjetische, sondern auch viele deutsche Studentinnen und Studenten, von denen viele später in diplomatischen Korps tätig waren. Dazu gehört auch der derzeitige russische Botschafter in Berlin, Wladimir W. Kotenew.
APB: Und wie siehst du den Untergang der Sowjetunion?
GALL: Meiner Meinung nach war der Zerfall der Sowjetunion eine Tragödie. Radikale Reformen waren notwendig, aber sie hätten anders durchgeführt werden können und sollen. Doch die Kräfte, die die Sowjetunion zerstören wollten, waren auch sehr groß. Leider ist es uns nicht gelungen, die Sowjetunion auf einer neuen, veränderten gemeinsamen Basis zu konstituieren.
APB: Du verfolgst die politischen Entwicklungen ja auch in Deutschland nach dem Untergang der DDR sehr genau. Wie siehst du das Erstarken von Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus in Deutschland?
GALL: Ich beobachte das Erstarken des Neofaschimus, Antisemitismus und Rassismus und Deutschland mit großer Besorgnis; so wie im Übrigen auch in Russland und vielen Ländern des ehemaligen sog. Ostblocks. Aber die Gespräche, die ich in Berlin und anderen deutschen Städten mit vielen Menschen, besonders mit Jugendlichen, führte, machen mir auch Hoffnung. Es gibt auch in der Bundesrepublik viele Jugendliche, die sich dem wieder erstarkendem Neofaschismus, Antisemitismus und Rassismus entgegenstellen. Es wächst auch eine antifaschistische Generation nach, die aus unseren Fehlern und Lehren lernt und dann genauso erfolgreich siegen wird, wie wir damals.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte die Antifa Prenzlauer Berg
Quelle: Rosen auf den Weg gestreut. Heft Nr. 7, Oktober 2008