Für eure und unsere Freiheit!

29. März 2013

Gespräch mit Zygmunt Bauman zum 67. Jahrestag des Sieges über den Faschismus am 9. Mai 2012

 

Wie erlebten Sie den Sieg über den Faschismus?
Am Tag der Kapitulation des „Dritten Reiches“ fehlten mir, einem Leutnant der Polnischen Streitkräfte, zur Erlangung der Volljährigkeit, genau anderthalb Jahre – die, wie ich in der Vorkriegszeit gelehrt wurde, erst mit dem 21. Geburtstag erreicht werden sollte. Ich erinnere mich nicht daran, dass mir der Gedanke darüber schlaflose Nächte bereitet hätte. Im Gegenteil: Meine Jugend und Unreife schien mit dem Zustand des Landes und der Welt übereinzustimmen – wie weit oder eng auch immer meine Vorstellung davon damals war. In mir und um mich herum begann erst alles: es startete von Neuem. Hier und dort zählte nur die Zukunft. Der Krieg und die Besatzung mit ihrer täglichen Portion der Erniedrigungen, des Hungers und der Angst, der unablässigen Nachbarschaft des Todes, der unteilbaren Herrschaft des blinden Schicksals waren ein entsetzlicher Traum, der hier eben, in diesem Augenblick, sein Ende fand und dessen düsteren Dunst man schnellstens abschütteln sollte. Alles steht wieder in der Macht des Menschen und für ein Untätigbleiben gibt es keine Rechtfertigung. Nach Jahren nüchterner Schwärmereien, ertragreich an Phantasie, doch karg mit Hoffnung ausgestattet, kam die Zeit der Pläne, die Zeit der mächtigen Worte –  Worte, die wie nie zuvor nun endlich „Fleisch“ werden sollten…

 

Ich beschrieb diese Erfahrungen in dem Buch „Życie w kontekstach“ [„Leben in Kontexten“ – deutsche Auszüge veröffentlicht in telegraph 120]. In meiner Erinnerung ließ mein Land vor dem Krieg sehr viel zu wünschen übrig und mein Leben darin war ein ebenso weit vom Ideal entferntes. Das ‘damalige Polen’ war ein Land der unvorstellbaren Armut, welche sich in meiner Heimatstadt Poznań schon wenige Schritte von meinem Haus einnistete, direkt auf der anderen Seite der Dąbrowski Straße. Von Zeit zu Zeit wuchsen ihre Triebe auch entlang der geschniegelten und scheinbar mit sich und ihrem Schicksal zufriedenen Straßen Prusa und Słowackiego. Sie erreichten auch für mehrere Jahre das Innere unserer Wohnung und in jedem Dorf, welches ich als Kind besuchte, wucherte es schon gänzlich ungeniert mit Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit, offen spottend über jegliche Verstellung, Maskierung und die Wahrung des Scheins. Dieses Polen: Es war gastfreundlich für Vermögende und gnadenlos, jeglichen Mitleids entledigt gegenüber jenen, die von deren Wohlwollen abhängig waren, die sie zwangen, ähnlich wie meinen Vater, die menschliche Würde gegen Brot für die Familie zum Tausch anzubieten. An all das habe ich mich erinnert, genauso wie an die Rippenstöße, an die Tritte und an die Schubsereien der Schulkameraden (Nach dem Beispiel ihrer älteren Brüder oder Cousins an der Universität und am Gymnasium trieben sie auch mich in das Schulbank-Ghetto). Die Erinnerung daran tat noch lange, nachdem die blauen Flecken verwunden waren und der Schmerz nachgelassen hatte, weh, die Beleidigungen und Erniedrigungen waren darauf  angelegt ewig zu wirken.

 

Ein Polen unter deutscher Besatzung lernte ich nicht kennen. Ich kehrte in das Polen zurück, welches ich am 2. September 1939, als ich in den Zug [in Richtung Sowjetunion] stieg, verlassen hatte. Es war gerade dabei, sich in ein besseres Polen zu „verkleiden“. Daran wollte ich mich beteiligen. Wir  werden miteinander reden, werden einer den anderen verstehen und überzeugen, wir werden uns einigen, gemeinsam werden wir die Ärmel hochkrempeln und die nicht verheilten Verletzungen heilen und den Kreis der Demütigungen und Erniedrigungen durchbrechen…

 

Wann und unter welchen Umständen traten Sie in die Polnische Armee im Osten ein?
1943 (noch bevor ich 18 Jahre alt wurde) kam Stalin auf die Idee, dass die Moskauer Polizei in ihre Reihen „fremde Elemente“ aufnehmen sollte, um so das Risiko zu minimieren, dass sich die „Sicherheitsorgane“ mit den von Armut geplagten Einheimischen, verbrüdern. Ich, der aus Polen geflüchtet war, fiel unter diese Kategorie und zahlreiche mit mir vergleichbare Polen, Letten u.ä. Ich wurde aufgefordert den Straßenverkehr in Moskau zu regeln. Nach einigen Monaten gelang es mir durch Unterstützung des Związek Patriotów Polskich [ZPP -Bund Polnischer Patrioten in der UdSSR] nach Sumy bei Charkow herauszukommen, wo die 4. Division Jan Kiliński der I. Polnischen Armee in der UdSSR formiert wurde. Nach einer nur einige Wochen dauernden (!) Offiziersausbildung (Polen mit einem Abitur waren damals Gold wert) wurde ich, im Rang eines Fähnrichs, dem 6. Artillerie-Regiment als stellvertretender Kommandeur der 5. Batterie für politische Angelegenheiten zugewiesen. Meine Rolle wie auch die der anderen „Stellvertreter“ im Regiment, wenn nicht gar Division, bestand in der „Polnisierung“ der Batterie. Ich war in ihr wohl der einzige polnisch sprechende Offizier, fast alle Unteroffiziere und Kanoniere stammen aus dem polnischen Grenzland im Osten und bezeichneten sich in der Mehrheit als „Ruthenen“.

 

Wie verlief ihr Kampfeinsatz?
Davon gab es leider nicht allzu viel… Nach dem Ausbluten der I. Armee in der Schlacht bei Lenino wurde diese in Reserve gehalten bis sie unstrittig polnisches Gebiet erreichte, das heißt den Fluss Bug überquerte. Dort begann auch mein „Kampfeinsatz“. Das erste scharfe Schiessen im August 1944 hatte ich auf der Saska Kępa [Stadtteil von Warschau auf der rechten Weichsel-Seite] absolviert als wir erfolglos die Landung der Infanterie in Czerniaków [Warschauer Stadtteil auf der anderen Flussseite] unterstützten. Anschließend waren wir einige Monate in der Ortschaft Radość, wo wir uns – bis zum Beginn der Offensive und der Überquerung der Weichsel bei Warka am 17. Januar 1945- mit der Wehrmacht auf der anderen Flussseite gegenseitig beschossen. Aber selbst dann war das noch nichts. Bis März 1945 haben wir es nicht geschafft die Wehrmacht einzuholen, so schnell sind die davongehuscht. Und so, um ehrlich zu sein, begann mein Einsatz im Krieg erst bei der Durchbrechung des Pommern Walls. In den Straßenkämpfen von Kolberg wurde er Wirklichkeit, dessen deutsche Besatzung – sehr gut ausgerüstet und vom Rest seiner Einheiten abgeschnitten – sich bis zum Letzten verteidigte. Dort wurde ich am 18. März an der rechten Schulter verwundet und dort errang ich auch die Tapferkeitsmedaille. Nach der Operation und einigen Wochen im Feldlazarett bat ich um eine Entlassung im Rahmen einer „1.-Mai-Selbstverpflichtung“. Ich gelangte per Anhalter zurück zu meiner Einheit als bereits die Schlacht um Berlin ihrem Ende entgegen kam.

 

Wofür haben Sie und ihre Kameraden gekämpft? Gab es Diskussionen für welches Polen man bereit ist zu kämpfen, ob man in den Reihen der Polnischen Armee im Osten kämpfen oder der Heimatarmee (AK) beitreten sollte?
Ich kann nicht für alle sprechen; ich selbst bin groß geworden mit der Lektüre der „Wolna Polska“ [„Freies Polen“ – Wochenschrift des ZPP, die 1943-1946 in Moskau herausgegeben wurde] und der „Nowe Widnokręgi“ [„Neue Horizonte“ – gesellschafts-literarische Monatsschrift in den Jahren 1941-1946, die anfangs in Lvov vom sowjetischen Schriftstellerverband herausgegeben wurde, seit 1943 Zwei-Wochenschrift des ZPP] die in Kuibyschew [heute Samara] und dann in Moskau herausgegeben wurde. Noch voll von Erinnerungen an die Vorkriegszeit, träumte ich von einem Polen frei von Klassenunterschieden und ohne Klassenhass, frei von der Plage der Massenarbeitslosigkeit und landlosen Bauern, frei von Ausbeutung und menschlicher Erniedrigung. Aber in der I. Armee, als auch im 6. Regiment Leichter Artillerie [innerhalb der 4. Pommerschen Infanterie-Division] waren alle möglichen politischen Schattierung vertreten. Uns verband wohl alle einzig das Verlangen nach einem freien und unabhängigen Polen – und dann werden wir schon schauen. Ich muss zugeben, dass es auch mir widerfahren ist, dass ich mir das Nachkriegsparadies vor allem in der Form von Bäckereien vorstellte, die 24 Stunden am Tag geöffnet haben und deren Regale voll mit Brot sind. Nach Jahren des Hungers während der Mittagszeit, am Abend und in der Nacht, fällt es schwer sich über diese Vorstellung zu wundern.

 

Und das von Ihnen unterstellte Dilemma in der Diskussion existierte praktisch nicht. Und als in den befreiten Gebieten junge Menschen in die einzige reguläre Armee eingezogen wurden, die es in dem Land gab, desertierte nur ein kleiner Teil davon oder versuchte sich vorm Dienst zu drücken!

 

Welche Rolle spielte für Sie die Tatsache, dass sie aus einer jüdischen Familie stammen? Wie haben Sie über die faschistischen Konzentrationslager zum ersten Mal erfahren?
Der Sowjetunion verdanken ich und meine Eltern das Überleben. Und einer der ersten Anblicke nach der Überquerung  des Bugs war das KZ Majdanek – noch frisch von den Henkern hinterlassen, in rohem Zustand, noch nicht „musealisiert“ – mit Stapeln von Schuhen, Hügeln von Brillen, Säcken mit Menschenhaaren und lebenden Leichen die sinnlos in die Leere starrten…

 

Welches Ereignis aus dieser Zeit haben sie in Erinnerung behalten, mit welchem verbinden Sie Trauer?
Tabellenrangplätze sind gut für den Fußball, aber nicht in Angelegenheiten nach denen sie fragen. Der Krieg begann als ich 13 Jahre alt war und endete als ich 19 wurde. Er hat mein ganzes Jugendalter verschlungen. Der Krieg und darin auch die Frontepisode haben mich für den Rest meines Lebens geprägt, aber wie sollte ich deren Einfluss sortieren? Ich will nicht so tun als wäre ich ein maßgebender Richter in dieser Angelegenheit.

 

Wie erlebten Sie die Sowjetunion? Welchen Einfluss hatte die Nachricht über den Mord in Katyń oder die Kenntnis von den Verbannungen vieler Polen nach Sibirien auf einen gemeinsam mit der Roten Armee geführten Kampf gegen Faschismus?
Wie ich schon sagte, der UdSSR verdanke ich, dass ich überlebt habe. Die Jahre die ich dort verbrachte gehörten nicht zu den bequemsten, aber ich litt gemeinsam mit allen um mich herum, nicht jedoch als ein Fremder oder unwertes Leben [deutsch im polnischen Original]

 

Und über dies hinaus war ich Zeuge des Ausbruchs einer unbeschreiblichen menschlichen Aufopferung und Solidarität, der menschlichen Würde, selbst unter unmenschlichen Bedingungen. Was Katyń angeht, dass es Hitler war, der es getan haben sollte, daran hatte ich damals jedenfalls nicht gezweifelt… Es passte in allem darin überein, was ich von ihm bislang erfahren habe…

 

Was waren ihre Prioritäten nach dem Krieg, damit Ihre Mühe nicht umsonst war?
Ich glaube nicht, dass ich damals in diesen Kategorien gedacht habe. In die Nachkriegsrealität trat ich als Soldat hinein und als Soldat bin ich noch einige Jahre geblieben, da ich dachte (irrtümlich, wie ich erst später begriff), dass dieser Dienst notwendig sei „damit die Mühe nicht umsonst war“ und, dass meine Träume von einem Polen des Wohlstands und Glücks Realität werden. Das Bewusstsein des Missklangs zwischen Theorie und Praxis kam erst später…

 

Haben Sie nie daran gedacht, dass angesichts der wachsenden Ausländerfeindlichkeit und des Erstarken des Neonazismus in Europa Ihre Mühe und Aufopferung umsonst gewesen sind?
So etwas kann nur jenen einfallen, die die Grausamkeiten von zwei Totalitarismen und die Grausamkeiten eines europäischen Krieges nicht erlebt haben. Die Mühe war nicht umsonst – die Totalitarismen sind für immer verbannt. Und welche Vorwürfe man auch immer gegenüber der heutigen Welt richten kann – um wie viel schrecklicher wäre unsere heutige Welt, wenn jene „Mühen und Aufopferung“, wie Sie das ausdrücken, ausgeblieben wären?

 

Es schmerzen jedoch die Beweise, die von Jahr zu Jahr anschwellen anstatt weniger zu werden, dass wir unfähig sind aus geschichtlichen Erfahrungen zu lernen, wie auch immer unmissverständlich und drastisch sie wären. Die Ausländerfeindlichkeit ist eine mörderische Ideologie und als ich den Krieg verlassen habe, hegte ich – welch naive – Hoffnung, dass es für die Ausländerfeindlichkeit keinen Platz mehr geben wird. Muss denn jede Generation um Niederträchtigkeit loszuwerden und unser gemeinsames Leben vom Bösen zu befreien am Beispiel der selbst begangenen Niederträchtigkeiten lernen? Die Jahrestage der Beendigung von Kriegen sollten eine Gelegenheit sein, nicht um die eigenen Siege und die Niederlagen des Kriegsgegners zu zelebrieren, sondern um sich selbst daran zu erinnern, was zu diesem entsetzlichen Blutbad geführt hat und diese Lektion gut in sich aufzunehmen, die für uns alle gleichermaßen erlösend wäre, dass Böses, das Böse nur vertieft, anstatt sich diesem zu widersetzten.

 

Ja aber was würde ich denn tun, wenn ich noch einmal an der Stelle jenes Zygmunt in den Berliner Wäldern im Mai 1945 wäre? Vermutlich würde jener Jüngling anders handeln als er handelte (womöglich konnten ihm auch andere Erlebnisse widerfahren). Doch vermutlich würde ich das gleiche machen, wie er damals. Dass er von einem Polen träumte, das frei ist von Elend und menschlicher Erniedrigung, einem Polen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, kann ich ihm nicht vorwerfen. Wenn ihn also diese Träume in irgendeinem Moment auf Irrwege führten, habe ich nicht das Recht ihm böse zu sein. Und umso weniger habe ich nicht das Recht, Weisheiten auszukramen und ihn zu belehren aus den Höhen des Wissens, die ihm fehlten…

 

Ich wünsche Euch eine günstige Verwirklichung der geplanten Feierlichkeiten!

 

Prof. Dr. hab Zygmunt Bauman – geboren 1925, Soziologe und Philosoph. Bis 1968 Professor an der Warschauer Universität, infolge der antisemitischen Ausschreitungen 1968 während der März-Unruhen aus Polen ausgewiesen. Emigrierte nach Israel, wo er bis 1971 an den Universitäten in Tel Aviv und Haifa unterrichtete. Anschließend übernahm er den Lehrstuhl für Soziologie in Leeds, wo er bis heute lebt.

 

Das Gespräch führte Kamil Majchrzak