Nachruf Wolodja Gall

2. März 2013

Konni hockte am Rundfunkgerät und hörte eine Sendung der BBC ab. Plötzlich sprang er auf und rief mit vor Freude überschnappender Stimme: ‚Jungs! In Reims ist ein provisorisches Protokoll über den Waffenstillstand unterschrieben worden. Morgen wird in Berlin die volle und bedingungslose Kapitulation unterzeichnet. Das bedeutet doch Sieg! Frieden!“

Wladimir Gall Moskau-Spandau-HalleSo beschrieb Wladimir Samoilowitsch Gall in seiner Autobiographie „MOSKAU – SPANDAU – HALLE. Etappen eines Lebensweges“ (GNN-Verlag, Schkeuditz 2000) den 7. Mai 1945, den er und sein bester Freund Konrad Wolf als Offiziere der Roten Armee in Rathenow erlebten. Gerne erzählte Wladimir oder Wolodja, wie wir ihn nannten, in zahlreichen Lesungen von seinem Lebensweg, von seiner Freundschaft mit Konrad Wolf und natürlich von dem Ereignis, das ihn so bekannt gemacht hat: seinem Parlamentärgang in die Spandauer Zitadelle. Die Verhandlungen auf der Zitadelle Spandau bezeichnete Wolodja in einem Interview für unsere Broschüre zum 9.-Mai-Fest 2010 als „dramatischste Episode“ seines Lebens. Konrad Wolf hatte dieses Ereignis in seinem Film „Ich war neunzehn“ mit einigen dramaturgischen Freiheiten dargestellt. Im Februar 1968 wurde er im Kino „International“ uraufgeführt.
 
Am 20. Januar wäre unser guter Freund, Veteran der Roten Armee und Antifaschist 93 Jahre geworden. Wolodja, 1919 in Charkow (Ukraine) geboren, Vorbild in Sachen Mut und Entschlossenheit gegenüber den faschistischen Mördern, starb aber am 9. September 2011 in Moskau.
 
Gerade einmal 22-jährig und frisch mit einem Germanistikdiplom des Moskauer Instituts für Geschichte, Philosophie und Literatur in der Tasche, ein Doktorandenstipendium bereits sicher, erlebte er den Angriff Nazideutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Als Freiwilliger diente er anfangs als Flaksoldat. Mitte 1942 traf er seinen ehemaligen Lehrer Lew Kopelew in Moskau wieder. Dieser sorgte mit dafür, dass Wolodja in die „Siebente Abteilung“ der 2. Panzerarmee an der Brjansker Front zur Aufklärungsarbeit unter deutschen Soldaten versetzt wurde. Im Juli 1944 dann die schicksalhafte Begegnung mit Konrad Wolf, den er „kennen, schätzen und lieben“ lernte. Wolodja war zur „Siebenten Abteilung“ der 47. Armee an die 1. Belorussische Front abkommandiert worden. Aufgrund seiner guten Deutschkenntnisse wurde Wladimir Gall einer Sondereinheit zugeteilt. Seine Aufgabe bestand darin, direkt an der Hauptkampflinie mit Lautsprecherwagen die deutschen Soldaten über die Ursachen des Krieges, den Faschismus in Deutschland aufzuklären und zur Aufgabe und Vermeidung weiteren sinnlosen Blutvergießens zu überzeugen.
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Es war der 1. Mai 1945, als die Rote Armee Berlin schon eingenommen hatte, Richtung Brandenburg vorrückte, die Zitadelle Spandau, voll mit Hunderten Zivilisten, Offizieren der Wehrmacht und der SS, im Rücken. Und dann kam er, der „Höhepunkt meiner Tätigkeit“, der Parlamentärgang in die Zitadelle. Mit seinem Vorgesetzten, Major Grischin, kletterte er über eine Strickleiter in die Zitadelle, führte dort mit ihm die Verhandlungen zur kampflosen Kapitulation der Festung.

SS-Fanatiker, die sich in der Festung befanden, versuchten immer wieder unsere Verhandlungen zur Vermeidung weiteren sinnlosen Blutvergießens zu sabotieren und wollten unsere Erschießung. Zum Glück war das nicht geschehen. Damit waren hunderte Zivilisten gerettet. Es freut mich, dass viele Deutsche diese humane Tat von uns und der Roten Armee nicht vergessen haben.

So beschrieb Wolodja das Geschehen in besagtem Interview für unsere Broschüre.“
 
Nicht vergessen ist aber auch, seine Tätigkeit nach dem Sieg über den deutschen Faschismus. Vom Juli 1945 bis Januar 1948 leistete er als Leiter der Kulturabteilung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) und persönlicher Berater des SMAD-Chefs der Provinz Sachsen (Sachsen-Anhalt) einen wichtigen Beitrag für einen demokratischen Neuanfang im Nachkriegsdeutschland. Konrad Wolf war 1946 Kulturreferent und Wladimir Galls  Stellvertreter in Halle.
 
Jedes Jahr besuchte Wolodja die DDR und nach 1989 in die Bundesrepublik. Nach ihm nannte sich zu DDR-Zeiten eine Jugendbrigade in der Filmfabrik ORWO in Wolfen. Den Untergang der DDR sah Wolodja mit der gleichen Skepsis wie den der Sowjetunion, denn er hatte

ja nicht nur gegen den Faschismus, sondern auch für den Sozialismus gekämpft.“

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Im Mai 2005 trug Wolodja sich ins „Goldene Buch“ von Spandau ein; anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung vom deutschen Faschismus. Inzwischen gibt es einen Antrag des BVV-Verordneten der LINKEn, Dirk Großeholz,  in der Bezirksverordnetenversammlung Spandau, den Zitadellenweg in Vladimir-Gall-Weg umzubenennen. Dies würde tatsächlich der „herausragenden Persönlichkeit“ Wolodjas, die weit über den Spandauer Bezug zeitgeschichtlich, aber auch für unsere heutige Zeit von großer Bedeutung ist, gerecht werden.